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10 décembre 2008 3 10 /12 /décembre /2008 10:32
Die Frage nach den Grenzen der Demokratie ist so alt wie das Nachdenken über die Demokratie, also viel älter als die Demokratie selbst, wenn wir ihre Geschichte mit der Gründung der Vereinigten Staaten von Amerika 1776 beginnen lassen. Aristoteles (384-322 v. Chr.) hat sich als erster rund
2000 Jahre früher in seiner Staatsformenlehre mit dieser Frage befasst. Er hat die Demokratie verworfen, weil in ihr die Mehrheit, die „Vielen“ wie er sagte, nicht um des Gemeinwohls, sondern um des eigenen Vorteils willen regieren. Nicht um des eigenen Vorteils, sondern um des Gemeinwohls willen zu regieren, war für ihn das entscheidende Kriterium für die guten Herrschafts-formen – unabhängig von der Zahl der Herrschenden. Nur den eigenen Nutzen im Blick zu haben, war dementsprechend Kennzeichen aller verwerflichen Herrschaftsformen. Eine Demokratie, in der die Vielen um des Gemeinwohls willen regieren, also gleichsam durch Gesetze und Tugenden gemäßigt sind, gehörte für ihn durchaus zu den legitimen Herrschaftsformen – nur nannte er diese Herrschaftsform nicht Demokratie, sondern „Politie“.


I.    Was sagen die Klassiker zu den Grenzen der Demokratie?

Die Frage nach den Grenzen der Demokratie bleibt auch in den Demokratietheorien der Neuzeit aktuell. Thomas Hobbes (1588-1679), der gemeinhin als Begründer der neuzeitlichen politischen Theorie gilt, wird man freilich kaum unter die Demokratietheoretiker zählen können. Seine anthropologischen Prämissen führen geradewegs in einen autoritären Staat. Da der Mensch des Menschen Wolf und der Naturzustand des Zusammenlebens dieser Wölfe ein Krieg aller gegen alle sei,  könne der Friede nur durch einen absoluten Herrscher, den er „Leviathan“ nennt, gewährleistet werden. Der Leviathan hat zu verhindern, dass die Menschen vorzeitig eines gewaltsamen Todes sterben. Der gewaltsame Tod ist für Hobbes das größte Übel, das in seiner relativistischen Perspektive an die Stelle eines summum bonum getreten ist. Die politische Herrschaft orientiert sich für ihn nicht mehr am Gemeinwohl und damit an der Ermöglichung eines geglückten Lebens, sondern an der Verhinderung dieses summum malum. Um ihm zu entgehen, schließen die Menschen zunächst einen Gesellschafts- und dann einen Unterwerfungsvertrag. Wie aber der Leviathan plötzlich frei sein soll von der wölfischen Natur, die Hobbes dem Menschen unterstellt, bleibt ungeklärt. Eine bioethische Grenze zieht Hobbes aber auch seinem Leviathan. Er darf nichts befehlen, was mit einer Gefahr für Leib und Leben des Untertanen verbunden ist. Ist mit seinen Entscheidungen eine solche Gefahr verbunden, hat der Untertan, beispielsweise als Soldat, ein Recht zum Widerstand. Das Widerstandsrecht ist deshalb „das Trojanische Pferd im Reich des Leviathan“. 

Für Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) steht die Frage nach den Grenzen der Demokratie ebenfalls nicht im Mittelpunkt seiner politischen Theorie. Im Gegensatz zu Hobbes aber ist er einer der Väter der modernen Demokratie – zumindest in ihrer kontinentalen, von der Französischen Revolution ausgehenden Form, einer Form, die sich in eine blutige Tyrannei verwandelte und auch vor dem Gebrauch der Guillotine nicht zurückschreckte. Zwar zeigt Rousseau eine gewisse Skepsis gegenüber der Lebensfähigkeit der Demokratie – er nennt sie eine Regierungsform für Götter, die für Menschen nicht passe  - aber er begründet andererseits mit seinem Contrat Social die Lehre von der Volkssouveränität, die fortan als erste Legitimitätsbedingung der Demokratie gilt.  Das Prinzip der Volkssouveränität reicht jedoch nicht aus, um rechtmäßige Herrschaft zu begründen. Es kann jederzeit auch zur Begründung einer Tyrannei gebraucht werden. Es muss sich deshalb die Frage nach seiner Begrenzung gefallen lassen, will es zur Legitimität der politischen Herrschaft beitragen. 
Für drei andere Klassiker der Demokratietheorie steht dagegen die Frage nach den Grenzen der Demokratie im Zentrum ihres Denkens: Für John Locke, Montesquieu und vor allem für Alexis de Tocqueville – und in ihre Reihe sind auch die Autoren der Federalist Papers, Alexander Hamilton, James Madison und John Jay, die Väter der amerikanischen Verfassung, einzureihen. John Locke (1632-1704), der in der Beschreibung der menschlichen Natur und der sozialen Beziehungen im Naturzustand in den Spuren von Hobbes wandelt, plädiert gleichwohl nicht für eine autoritäre, sondern eine konstitutionelle Herrschaft, in der die politische Gewalt durch das Recht gezähmt und auf verschiedene Träger aufgeteilt wird. Die Legitimität politischer Gewalt gründet darüber hinaus nicht in einem negativen, sondern in einem positiven Ziel. Nicht Verhinderung eines gewaltsamen Todes, sondern Schutz des Eigentums rechtfertigt die politische Gewalt, wobei Eigentum für Locke nicht nur Geld- und Sachvermögen, sondern auch Leben und Freiheit bedeutet.  Die politische Gewalt ist „treuhänderische“ Gewalt.  Sie ist somit doppelt begrenzt – zum einen durch das legitimierende Ziel, den Schutz von Leben, Freiheit und Eigentum, zum anderen durch die Struktur der Checks and Balances.

Montesquieu (1689-1754) vertieft in seinem 1748 erschienenen Werk „Vom Geist der Gesetze“ die Lehre der Gewaltenteilung. Eine ewige Erfahrung lehre, „dass jeder Mensch, der Macht hat, dazu getrieben wird, sie zu missbrauchen…Damit die Macht nicht missbraucht werden kann, ist es nötig, durch die Anordnung der Dinge zu bewirken, dass die Macht die Macht bremse“.  Die einen Machtmissbrauch wenn schon nicht ausschließende, so zumindest in seinen negativen Auswirkungen bremsende Anordnung der Gewalten, heißt für Montesquieu Trennung der drei Staatsgewalten Legislative, Exekutive und Judikative. „Alles wäre verloren, wenn ein und derselbe Mann beziehungsweise die gleiche Körperschaft entweder der Mächtigsten oder der Adligen oder des Volkes folgende drei Machtvoll-kommenheiten ausübte: Gesetze erlassen, öffentliche Beschlüsse in die Tat umsetzen, Verbrechen und private Streitfälle aburteilen.“  Montesquieu verfolgte mit seiner Gewaltenteilungslehre zwar primär das Ziel, den Absolutismus Ludwigs XIV. konstitutionell einzugrenzen und sein Abgleiten in eine Despotie zu verhindern, aber seine Lehre gilt genauso für die Demokratie. Auch die Demokratie kann dazu führen, dass „alles verloren“ wäre. Auch sie kann zur Tyrannei verkommen.

Die Demokratie vor dem Abgleiten in die Tyrannei zu bewahren, ist das große Thema von Alexis de Tocqueville (1805-1859). Er kennt das Ancien Regime seiner Heimat Frankreich und bewundert die Demokratie in Amerika, die er vor Ort studiert, in seinem Werk „Über die Demokratie in Amerika“ beschreibt und deren Schwächen ihn unablässig beschäftigen. Er verteidigt das Mehrheitsprinzip als Entscheidungsregel in der Demokratie und warnt doch zugleich vor der Tyrannei der Mehrheit, die bis zur Repression oder gar zur physischen Liquidierung von Minderheiten gehen kann.  „Ich halte den Grundsatz, dass im Bereich der Regierung die Mehrheit eines Volkes das Recht habe, schlechthin alles zu tun, für gottlos und abscheulich und dennoch leite ich alle Gewalt im Staat aus dem Willen der Mehrheit ab. Widerspreche ich mir damit selbst? Es gibt ein allgemeines Gesetz, das nicht bloß von der Mehrheit irgendeines Volkes, sondern von der Mehrheit aller Menschen, wenn nicht aufgestellt, so doch angenommen worden ist. Dieses Gesetz ist die Gerechtigkeit. Das Recht eines jeden Volkes findet seine Grenzen an der Gerechtigkeit“.  Diese von ihm „Gerechtigkeit“ genannte naturrechtliche Grenze der Mehrheitsherrschaft - nicht „aufgestellt“, sondern „angenommen“  ergänzt Tocqueville um das Prinzip der Gewaltenteilung. Eine Demokratie, die legislative, exekutive und judikative Gewalt trennt, sei das beste Mittel, einer Tyrannei „kaum noch Chancen“ zu geben.

Man mag den Klassikern der Demokratietheorie manches Defizit vorhalten: dass sie den Begriff des Demos, d. h. der wahlberechtigen Bürger auf eine Minderheit von Männern beschränkten, dass sie von Aristoteles bis zu den Federalist Papers das Problem der Sklaverei ignorierten, dass sie die Bedeutung der Oppositions- und Koalitionsfreiheit sowie der politischen Parteien vernachlässigten, und dass sie mehr an der Problemlösungskapazität politischer Herrschaft als an den Partizipationschancen der Bürger interessiert waren, ihre Leistung – sieht man einmal von Hobbes und Rousseau ab – besteht darin, dass sie wesentliche Beiträge zu einer Theorie begrenzter Herrschaft und damit zur Bedeutung der Grenzen in der Demokratie geleistet haben. Vor allem die Arbeiten von Aristoteles und von Tocqueville können „auch heute noch ertragreich rezipiert werden“.

II.    Was sagt das Grundgesetz zu den Grenzen der Demokratie?

Eine äußerst ertragreiche Rezeption dieser Vorgaben der klassischen Demokratietheorie ist das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Nach den bitteren Erfahrungen mit dem Untergang der ersten deutschen Demokratie 1933 und mit einem totalitären Regime, das jedwede Beschränkung seiner Macht verwarf, gelang dem Parlamentarischen Rat im Winter 1948/49 eine Verfassungsordnung von erstaunlicher Weisheit und Lebensdauer. „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen“, so beginnt das Grundgesetz in seiner Präambel, „hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben“. „Kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt“ heißt, die Verfassungsordnung geht vom Volk aus. Art. 20 Abs. 2 GG unterstreicht das noch einmal: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ Definiert man die Demokratie mit der geläufigen Formel von
Abraham Lincoln (1809-1865) als „government of the people, by the people
 and for the people“, dann ist die Demokratie des Grundgesetzes zweifellos eine Demokratie, eine Demokratie im übrigen, die in den 40 Jahren der kommunistischen Herrschaft in Ostdeutschland eine große Anziehungskraft auf die Menschen ausübte, die unter dieser Diktatur leben mussten.

Die Demokratie des Grundgesetzes verstand sich von Anfang an als beschränkte Demokratie und die Beschränkung ruht auf zwei Pfeilern. Sie ruht zum einen auf einem System der horizontalen und vertikalen Gewaltenteilung, das die Fehler der Weimarer Verfassung vermied und ebenso eine funktions-fähige Herrschaft wie eine gegenseitige Kontrolle und Balance der Staatsgewalten gewährleistet. Sie ruht zum anderen auf der Anerkennung vorstaatlicher Menschenrechte. Der Parlamentarische Rat war sich der Bedeutung dieser beiden Pfeiler wohl bewusst, versuchte er doch, ihnen mit Art. 79 Abs. 3 eine „Ewigkeitsgarantie“ zu geben und jede Änderung des Grundgesetzes auszuschließen, durch die die in Art. 20 niedergelegten Grundsätze der Gewaltenteilung und des Föderalismus einerseits und die in Art. 1 enthaltene Garantie der Menschenwürde und der Menschenrechte andererseits berührt werden. Art. 79 Abs. 3 GG bringt wie auch schon die Präambel und Art. 1 zum Ausdruck, dass das Grundgesetz von einem Verfassungsverständnis ausgeht, das nicht dem jeweiligen gesellschaftlichen Konsens unterliegt, sondern diesem vorauszugehen und ihn zu lenken hat. „Der Verfassungsgeber entsagt selbstherrlicher Souveränitätsideologie, wenn er sich zur Unantastbarkeit der Menschenwürde, zur Unverletzlichkeit und Unveräußerlichkeit der Menschrechte 'bekennt', also zu Normen, die nicht seine Schöpfung sind, sondern seine Vorgaben, und wenn er seine 'Verantwortung vor Gott und den Menschen' bekundet, also, ungeachtet der
Säkularität der staatlichen Organisation und der Gewährleistung subjektiver Religions- und Weltanschauungsfreiheit, auf den vorstaatlichen und vorverfassungsrechtlichen Grund von Staat und Verfassung verweist in unverfügbarer Transzendenz“.  Sehr prägnant bringt die zwei Jahre vor dem Grundgesetz in Kraft getretene Verfassung von Rheinland-Pfalz diesen Legitimitätsgrund demokratischer Herrschaft zum Ausdruck. Sie stellt in
Art. 1 Abs. 3 lapidar fest: „Die Rechte und Pflichten der öffentlichen Gewalt werden durch die naturrechtlich bestimmten Erfordernisse des Gemeinwohls begründet und begrenzt“.

Setzt das Verfassungsverständnis des Grundgesetzes dem demokratischen Gesetzgeber auch spezifisch bioethische Grenzen? Was ist überhaupt unter bioethischen Grenzen zu verstehen? Wenn die Ethik seit Aristoteles nach den sittlichen Bedingungen für das Gelingen des menschlichen Lebens, mithin nach allgemeingültigen Normen und Maximen der Lebensführung fragt, dann ist der Gegenstand der Bioethik die Frage nach allgemeingültigen Normen im Umgang mit dem menschlichen Leben von der Empfängnis bis zum Tod. Aus solchen Normen ergeben sich Verpflichtungen für den Verfassungsgeber und den demokratischen Gesetzgeber. Der Parlamentarische Rat hat eine ganze Reihe derartiger bioethischer Grenzen der Demokratie in das Grundgesetz aufgenommen – sowohl im Grundrechtsteil als auch im Kapitel IX über die Rechtsprechung. Mit dem Embryonenschutzgesetz hat der Gesetzgeber 1990 diese Grenzen präzisiert und auf neue Entwicklungen in der Biomedizin geantwortet.

Der Grundrechtsteil des Grundgesetzes beginnt mit der Gewährleistung der Menschenwürde und dem Bekenntnis zu den Menschenrechten. „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“, so Art. 1 Abs. 1 GG. Die Menschenwürde ist ein schlechthin erster Anfang, von dem die ganze Verfassungsordnung ausgeht, „eine selbstevidente, aus sich heraus einsichtige Wahrheit, …ein höchstes Moral- und Rechtsprinzip“, das sich zwar auf eine biologische Eigenschaft bezieht, ohne selbst aber eine solche zu sein.  Als Moral- und Rechtsprinzip verlangt die Menschenwürde von jedem, jeden, der ein menschliches Antlitz trägt, also zur Gattung Mensch gehört bzw. ein „Jemand“ und nicht ein „Etwas“ ist, zu achten,  ihn nicht „zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe“ herabzuwürdigen.  Weil der Mensch Würde hat, hat er unverletzliche und unveräußerliche Menschenrechte. Art. 1 GG bringt dies in Absatz 2 mit dem Wort „darum“ zum Ausdruck: „Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“. Dieses Bekenntnis hat für die Menschenrechte nicht konstitutive, sondern deklaratorische Bedeutung. Die Menschenrechte sind wie die Menschenwürde dem Staat vorgegeben. Der Verfassungsgeber erfindet sie nicht, sondern entdeckt sie  - in der Regel umso leichter, je bitterer die Erfahrungen mit totalitären Herrschaftssystemen sind. Insofern ist die Rede von der Menschenwürde aus der Leidensgeschichte der Menschheit in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erwachsen – nicht nur im Grundgesetz, sondern auch in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UNO vom 10. Dezember 1948.

Das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit in Art. 2 Abs. 2 GG ist das erste und wichtigste Grundrecht im Grundrechtskatalog des Grundgesetzes, ohne dessen Gewährleistung alle folgenden Grundrechte hinfällig wären. Es ist die bedeutendste bioethische Grenze der Demokratie. Dass das Recht auf Leben 1949 um ein Recht auf körperliche Unversehrtheit ergänzt, die bioethische Grenze der Demokratie also verschärft wurde, ist ein Resultat der Erfahrungen mit der nationalsozialistischen Herrschaft und deren skrupellosen medizinischen Versuchen an Häftlingen in Konzentrationslagern. Auch das Diskriminierungsverbot in Art. 3 Abs. 3 GG ist eine Konsequenz aus den Erfahrungen mit der NS-Herrschaft, wenngleich das Diskriminierungs-verbot Behinderter in Satz 2 erst 1994 dazu kam. Immerhin führte dieses Diskriminierungsverbot dazu, dass bei der letzten großen Reform des Abtreibungsstrafrechts 1995 die embryopathische Indikation fallen gelassen wurde, was in der Abtreibungspraxis freilich keine Bedeutung hatte, da sie einfach in die medizinische Indikation integriert wurde, nach Herbert Tröndle „ein Akt gesetzgeberischer Verhüllungskunst“. 

Menschenwürde und Lebensrecht kommen auch dem Embryo zu. Das Bundesverfassungsgericht hat dies in seinen beiden Urteilen zum Abtreibungsstrafrecht 1975 und 1993 mit markanten und eindeutigen Aussagen unterstrichen. „Wo menschliches Leben existiert, kommt ihm Menschenwürde zu; es ist nicht entscheidend, ob der Träger sich dieser Würde bewusst ist und sie selbst zu wahren weiß. Die von Anfang an im menschlichen Sein angelegten potentiellen Fähigkeiten genügen, um die Menschwürde zu begründen“, so das Gericht 1975.  „Menschenwürde kommt schon dem ungeborenen menschlichen Leben zu, nicht erst dem menschlichen Leben nach der Geburt oder bei ausgebildeter Personalität.“  Beim Ungeborenen handle es sich, so fährt das Gericht fort, „um individuelles, in seiner genetischen Identität und damit in seiner Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit bereits festgelegtes, nicht mehr teilbares Leben, das im Prozess des Wachsens und Sich-Entfaltens sich nicht erst zum Menschen, sondern als Mensch entwickelt.“

 Nicht weniger klar sind die Aussagen zum Lebensrecht. „Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG schützt auch das sich im Mutterleib entwickelnde Leben als selbständiges Rechtsgut“. Der mit der Empfängnis „begonnene Entwicklungsprozess ist ein kontinuierlicher Vorgang, der keine scharfen Einschnitte aufweist und eine genaue Abgrenzung der verschiedenen Entwicklungsstufen des menschlichen Lebens nicht zulässt. Er ist auch nicht mit der Geburt beendet… Jeder im Sinne des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ist 'jeder Lebende'…'jeder' ist daher auch das noch ungeborene menschliche Wesen“.  Keine rechtliche Regelung des Schwangerschaftsabbruchs könne deshalb daran vorbeikommen, dass die Abtreibung „unwiderruflich entstandenes menschliches Leben (zerstört)“, mithin „eine Tötungshandlung“ ist und „gegen die in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verbürgte grundsätzliche Unantastbarkeit und Unverfügbarkeit des menschlichen Lebens“ verstößt.  Dass auch schon der Parlamentarische Rat 1949 dieser Überzeugung war, obgleich er auf eine zunächst beantragte Ergänzung des Art. 2 Abs. 2 GG um den Satz „Das keimende Leben wird geschützt“ verzichtete, weist das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil 1975 nach.  Aus dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit zog der Parlamentarische Rat noch zwei weitere bioethische Grenzen für jeden demokratischen Gesetzgeber, die Eingang in das Kapitel über die Rechtsprechung fanden: die Abschaffung der Todesstrafe in Art. 102 GG und das Folterverbot in Art. 104 Abs. 1 GG.

III.    Grenzüberschreitungen

Wie steht es um den gesellschaftlichen Konsens im Hinblick auf die vom Grundgesetz vorgegebenen Grenzen? Hat die Gesetzgebung in Deutschland diese Grenzen beachtet? Wenn nicht, hat die Rechtsprechung des Bundes-verfassungsgerichts sie verteidigt? Ein Vierteljahrhundert, von 1949 bis 1974, wurden diese Grenzen kaum in Frage gestellt. Zwar hatte die erste größere Attacke auf das Abtreibungsstrafrecht, die Alice Schwarzer am 2. Juni 1971 im Stern mit der Behauptung startete, in Deutschland gäbe es jährlich rund eine Million Abtreibungen, nicht das Ziel, das ungeborene Kind besser zu
schützen, sondern den § 218 StGB ersatzlos zu streichen,  aber alle politischen Diskussionen im 6. und 7. Deutschen Bundestag und im Sonder-ausschuss für die Strafrechtsreform zur Zeit der Regierung Brandt/Scheel begründeten ihre Reformabsicht mit dem Ziel, den Lebensschutz für das ungeborene Kind zu verbessern. Die Reform des § 218 StGB 1974 und alle weiteren großen Reformen 1976, 1992 und 1995 wollten die Zahl der Abtreibungen senken. Alle Reformen waren von der Behauptung getragen, die Straflosstellung und dann ab 1992 die Legalisierung der bis 1974 verbotenen Abtreibung werde wenigstens in der Summe Mutter und Kind besser schützen. Selbst die Krankenkassenfinanzierung der Abtreibung sollte dazu dienen, die vom Grundgesetz vorgegebenen bioethischen Grenzen zu festigen.

Die Verwerfung der 1974 eingeführten Fristenregelung durch das Bundesverfassungsgericht 1975 als grundgesetzwidrig änderte nichts an der Legalisierung der Abtreibung. Alle oben zitierten Aussagen des Gerichts zur Menschenwürde und zum Lebensrecht des ungeborenen Kindes wurden durch den fünften Leitsatz des Urteils unterlaufen, der dem Gesetzgeber anheim stellte, die Abtreibung straffrei zu lassen, wenn die Fortsetzung der Schwangerschaft für die Frau „unzumutbar“ sei. Darüber hinaus waren zwei weitere Feststellungen des Gerichts geeignet, seine Verteidigung der Menschenwürde und des Lebensrechts des Ungeborenen zu unterlaufen. Zum einen die Empfehlung an den Gesetzgeber, statt der verworfenen Fristenregelung eine soziale Indikation einzuführen, nach der die Abtreibung auch dann straffrei bleiben sollte, wenn die Schwangere sie auf Grund einer unüberprüfbaren, nur von ihr selbst definierten Notlage vornehmen ließ.  Dieser Empfehlung folgte der Gesetzgeber 1976 und bis zur nächsten Reform 1992 wurden auch jährlich fast 90 % aller Abtreibungen mit der sozialen Indikation begründet. Zum anderen meinte das Gericht, der Gesetzgeber sei nicht gehindert, „die grundgesetzlich gebotene rechtliche Missbilligung des Schwangerschaftsabbruchs auch auf andere Weise zum Ausdruck zu bringen als mit dem Mittel der Strafdrohung“.  Damit ebnete das Gericht den Weg zum Paradigmenwechsel in der Reform von 1992 – weg vom Lebensschutz durch ein sanktionsbewehrtes Abtreibungsverbot hin zum vorgeblichen Lebensschutz durch die nachweispflichtige Beratung. Dass das Bundes-verfassungsgericht am 28. Mai 1993 die Reform von 1992 erneut verwarf, lag nicht am Paradigmenwechsel, sondern an der Kennzeichnung der so genannten „beratenen Abbrüche“ als „nicht rechtswidrig“. Es verlangte, diese Abtreibungen, auch wenn sie straflos blieben, als rechtwidrig zu kennzeichnen und die Schwangerschaftskonfliktberatung deutlicher an den verfassungs-rechtlichen Vorgaben in Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 2 GG zu orien-tieren.  In der einstweilen letzten Reform des § 218 StGB strich der Gesetzgeber zwar die Kennzeichnung der „beratenen Abbrüche“ als „nicht rechtswidrig“, vermied es aber, sie als rechtwidrig zu bezeichnen. Er erklärte vielmehr in § 218a Abs. 1 StGB, eine Abtreibung, die von einem Arzt inner-halb von zwölf Wochen nach der Empfängnis unter Vorlage eines Beratungsscheines vorgenommen werde, erfülle nicht den Tatbestand des § 218 StGB, der die Abtreibung verbietet.. Der Straftatbestand der Tötung eines ungeborenen Kindes wird mithin durch eine gesetzliche Definition nach Beratung zu einer strafrechtlich erlaubten Handlung und durch einen Beratungsschein zu einer medizinischen Dienstleistung, obgleich das verfassungsrechtliche Verbot der Abtreibung nicht angezweifelt werden kann. In die strafrechtliche Dogmatik war dieser Tatbestandsausschluss „nicht integrierbar“. 

Die Entwicklung des Abtreibungsstrafrechts von 1992 bis 1995 zeigt, dass weder der Gesetzgeber noch das Bundesverfassungsgericht bereit waren, die bioethische Grenze zu verteidigen, die das Grundgesetz der Demokratie in Deutschland gesetzt hatte. Das Gericht folgte der Mehrheit des Parlaments, die wiederum davon ausging, dass die öffentliche Meinung nicht mehr hinter dem Lebensrecht des ungeborenen Kindes stehe. Ernst Benda, von 1971 bis 1983 selbst Präsident des Bundesverfassungsgerichts, tadelte die Richter für ihre verfassungswidrige Anpassung. Selbst wenn die Einschätzung der öffentlichen Meinung richtig gewesen wäre, so Benda, hätte das Gericht die von der Verfassung geschützten grundlegenden Wertvorstellungen verteidigen müssen, statt sie preiszugeben.  Der Paradigmenwechsel im Abtreibungs-strafrecht, das sich unter der Hand immer mehr zum Abtreibungsrecht entwickelt, stellte das Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren über das Lebensrecht des Kindes. Dass dies für die ungeborenen Kinder verhängnis-volle Folgen hatte, dass ihr Schutz nicht gestärkt, sondern geschwächt wurde, wird vom Statistischen Bundesamt jährlich dokumentiert. Seit der faktischen Legalisierung der Abtreibung 1974 sind in Deutschland allein nach der offiziellen Statistik rund 4,8 Millionen Kinder abgetrieben worden. Da das Statistische Bundesamt zumindest bis 2001 selbst immer auf die Unvollständigkeit seine Abtreibungsstatistik hingewiesen und in einer eigenen Publikation zur Bevölkerungsentwicklung in Deutschland noch 2004 festgehalten hat, dass nur etwa 60 % der Abtreibungen statistisch erfasst würden, muss eine realistische Schätzung der Abtreibungszahlen in Deutschland für die Jahre 1974 bis 2007  von über acht Millionen ausgehen. 

Auf die Folgen dieses Paradigmenwechsels für das Lebensrecht des Embryos ist oft hingewiesen worden – von Verfassungsrechtlern wie Josef Isensee und Christian Hillgruber, von Strafrechtlern wie Herbert Tröndle und Harro Otto, insbesondere aber von den großen Lebensrechtsverbänden, der Juristen-Vereinigung Lebensrecht, den Christdemokraten für das Leben, der Aktion Lebensrecht für Alle sowie vom Bundesverband Lebensrecht. Das soll hier nicht weiter vertieft werden. Hier ist vielmehr nach den Folgen dieses Paradigmenwechsels für das Demokratieverständnis zu fragen. Welche Folgen hat der rechtlich tolerierte Anspruch der Schwangeren, autonom über Leben und Tod ihres Kindes zu entscheiden, für das Rechtsstaatsverständnis des Grundgesetztes? Welche Folgen hat die in § 13 des Schwangerschaftskonfliktgesetzes festgehaltene Pflicht der Bundesländer, ein flächendeckendes Netz von Abtreibungseinrichtungen bereitzustellen, für das Verständnis der Staatsaufgaben in der Demokratie? Wie aktuell ist Tocquevilles Warnung vor dem Umschlagen einer von der „Gerechtigkeit“ begrenzten demokratischen Herrschaft in eine Tyrannei, in der die Mehrheit eine Minderheit der physischen Liquidierung preisgibt, eine Minderheit, die nur über Ultraschall sichtbar ist und keine Stimme hat und für deren Liquidierung auch keine Guillotine mehr notwendig ist? Welche Reichweite hat die Feststellung von Art. 102 GG „Die Todesstrafe ist abgeschafft“, wenn jeder Arzt nach Vorlage eines Beratungsscheines gemäß § 218a Abs. 1 StGB befugt ist, ein Todesurteil zu vollstrecken, ein Todesurteil, das nicht einmal durch ein Gericht, sondern durch einen Konfliktpartner oder das ihn im Stich lassende Umfeld gefällt wird? Welche Überzeugungskraft hat ein Rechtsstaat, der dadurch definiert ist, dass er private Gewaltanwendung in Konflikten jedweder Art – mit Ausnahme einer Notwehr – verbietet und die Konflikte seiner Rechtsordnung unterwirft, wenn er diese private Gewaltanwendung in einem Schwangerschaftskonflikt nicht nur toleriert, sondern auch noch finanziert? Wird hier der Sozialstaat nicht ebenso zur Beute einer Mehrheit wie der Rechtsstaat? Kann ein Konflikt dadurch gelöst werden, dass ein Betroffener, der mit der Entstehung des Konflikts gar nichts zu tun hat, liquidiert wird?

Das Verbot, Unschuldige zu töten, ist die Legitimitätsbedingung der rechtsstaatlichen Demokratie. Die Aufhebung dieses Verbotes rechtlich regeln zu wollen, ist ein Widerspruch in sich. Sie kann nicht gelingen. Deshalb werden die Kontroversen über das Abtreibungsregelement und das Lebensrecht weitergehen. Eine Demokratie, die ihre bioethischen Grenzen verwischt, unterläuft ihre eigene Legitimitätsbedingung. Bischof Ketteler warnte schon 1875 auf dem Freiburger Katholikentag vor einer solchen Demokratie. Sie unterscheide sich nicht vom Absolutismus Ludwigs XIV., „welcher seinen unumschränkten Willen als Gesetz geltend machte… Das ist Wahnsinn, das ist unerträglich; das ist Sklaverei für alle, die nicht zur Majorität der Gesetzgeber gehören“. 

Wer die Demokratie mit den Vätern und Müttern des Grundgesetzes sichern will, hat deshalb ihre bioethischen Grenzen zu verteidigen und zu fragen, ob
das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit in Art. 2 Abs. 2 GG nicht um ein Recht auf Geburt ergänzt werden muss. Es geht nicht um die Spannungen oder gar Gegensätze zwischen einer säkularen und einer religiösen Ordnung, die Jürgen Habermas in jüngster Zeit in mehreren Publikationen zum Gegenstand seiner Sorge machte.  Es geht vielmehr um die Demokratie selbst. Wenn die Christliche Gesellschaftslehre in diesen Fragen ihre Stimme erhebt, wenn sie „die unbedingte Achtung vor dem Recht auf Leben jedes unschuldigen Menschen – von der Empfängnis bis zu seinem natürlichen Tod – zu einer der Säulen erklärt, auf die sich jede bürgerliche Gesellschaft stützt, will sie lediglich einen humanen Staat fördern. Einen Staat, der die Verteidigung der Grundrechte der menschlichen Person, besonders der schwächsten, als seine vorrangige Pflicht anerkennt.“

Prof. Dr. Manfred Spieker
Abschiedsvorlesung an der Universität Osnabrück am 14. November 2008


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